Die Erben der Arisierung – Wir wissen, was wir haben. Wissen wir auch, woher es stammt?“ Unter diesem Motto widmete sich der Frankfurter Autor Armin H. Flesch am vergangenen Dienstag im Friedberger Burggymnasium einem wenig beachteten Aspekt des Holocaust, der sogenannten „Arisierung“.
Vor 100 angehenden Abiturient:innen des Oberstufengymnasiums wies der Freie Journalist darauf hin, dass Erinnern und Wahrhaftigkeit von zentraler Bedeutung seien in einer Zeit, in der antisemitische Ressentiments zunähmen und gleichzeitig in Meinungsumfragen mehr als 50 Prozent der Befragten mit dem Begriff Auschwitz nichts anzufangen wüssten. Umso dringlicher sei zu verdeutlichen, dass dem Holocaust vielfältige Formen der Ausgrenzung, Verfolgung und sozialen Vernichtung vorausgegangen waren. Dazu gehöre auch wenig beachteter, sich in vielen Episoden vollziehender und bis heute wirksamer Vorgang: die als „Arisierung“ bezeichnete Enteignung der deutschen und europäischen Juden, an der sich weite Kreise der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung beteiligt und auf diese Weise den Holocaust nicht nur befördert, sondern überhaupt erst ermöglicht hatten. Wie Quellen beweisen, war das massenhafte Morden der Mehrheit der Deutschen keineswegs unbekannt, stattdessen wurde die Teilhabe an „Arisierung“ – aktiv wie passiv – bereits ab 1933 zunehmend zum gesellschaftlichen Normalfall.
Nach einer einleitenden allgemeinen Erläuterung des Begriffs der „Arisierung“, seiner Herkunft und der Entwicklung des Geschehens im Nationalsozialismus, präsentierte Flesch die Ergebnisse seiner Recherchen zu Fällen von Unternehmens-„Arisierung“. Den Anstoß zu seinen Forschungen hatte eine E-Mail aus dem Jahr 2014 gegeben, geschrieben vom Enkel eines jüdischen, ehemals Frankfurter Unternehmers, dessen Firma 1935 „arisiert“ worden war. Knapp 80 Jahre später behaupteten die Nachkommen des einstigen „Ariseurs“, ihr Unternehmen blicke auf „100 Jahre Familientradition“ zurück. Ursprünglich hätte diese Geschichte nur einen kleineren Zeitungsartikel ergeben sollen; doch die Suche nach alten Unterlagen führte Armin H. Flesch zu weiteren, teils spektakulären Arisierungsfällen.
Bis heute andauernde Recherchen und Interviews warfen Fragen auf: Wie funktionierte der legalisierte Raub und Mord an den europäischen Juden konkret? Wer profitierte davon? Wie verhielten sich die Neueigentümer nach Kriegsende und wie verhalten sich die heutigen Eigentümer arisierten Besitzes zur NS-Vergangenheit ihrer Familie? So liefert die Beschäftigung mit „Arisierung“ auch Erkenntnisse für das Verständnis des Holocaust: Welche Bedeutung hat „Arisierung“ für das Verständnis des NS, des Holocaust und der deutschen Nachkriegsgeschichte? Welche konkreten Auswirkungen hat die Arisierung bis heute?
All diesen Fragen ging Armin H. Flesch in seinem 90-minütigen, von den Schülerinnen und Schüler aufmerksam verfolgten Referat nach. An dessen Ende stellte er ganz aktuelle Fragen an seine Zuhörer: Besitze ich selbst ererbtes „arisiertes“ Gut? Wie würde ich mich verhalten, falls künftig noch einmal Menschen aufgrund persönlicher Merkmale ausgegrenzt würden? Würde ich daraus sich ergebende Vorteile und Möglichkeiten nutzen?
Im Anschluss an den Vortrag gab es Gelegenheit zu Nachfragen, welche sich nicht nur auf die Thematik an sich, sondern auch auf die Quellenlage und mögliche Archivorte für eigene Nachforschungen bezogen. – Vielleicht war dies das eigentliche, zentrale Ergebnis des Nachmittags: Damit Geschichte erinnert und Lehren aus ihr gezogen werden können, sollte jede und jeder den eigenen Anteil daran kennen und betrachten.
Der Beitrag erschien auch in der Wetterauer Zeitung am 10.03.2023.